Silvia Gertsch ‹ILLUMINATED›

Die neuen Bilder, die Handy Girls, von Silvia Gertsch zeugen von einer ebenso vertrauten wie eigenwilligen Intimität ihrer Protagonistinnen, den porträtierten Mädchen und jungen Frauen. Ganz in ihre Smartphones vertieft, wirken sie abwesend und in sich gekehrt; im Widerschein der Bildschirme in ihren Händen leuchten sie aber buchstäblich auf, werden ‘illuminiert’. Zumindest für uns Betrachtende. Oder werden wir in dem Moment zu Beobachtenden und beim Nähertreten allenfalls ertappt und ebenfalls zu Beobachteten?
Die Bilder eröffnen ein wechselhaftes Spiel zwischen dem Betrachten, Beobachten und Betrachtet-werden; zwischen der spontanen Handyfotografie, wie sie die Künstlerin bereits für frühere Bildvorlagen verwendete, und den Posen oder Nicht-Posen der Frauen und Mädchen. Zumal Silvia Gertsch diese unterwegs so angetroffen hat, sie aber um Erlaubnis bat zu fotografieren. Dabei erfuhr sie auch deren Namen, welche den Bildern ihre Titel gaben. Spannungsmomente treten ebenso mit der Lebendigkeit der in sich ruhenden Frauen auf. Im Lichtschein ihrer Handys haftet ihnen eine geheimnisvolle, beinahe sakrale, madonnenhafte Aura an. Umgekehrt ist der Griff zum Handy und der Blick auf den Screen eine häufige, vertraute Geste in unserem Alltag. Wenn auch nicht seit jeher. Und in den Blicken liegt soviel Fokussierung und Konzentration wie umgekehrt Abwendung und Ablenkung.  Kiara Maria, das Mädchen auf dem Sofa beispielsweise, schaut weniger auf den Screen als vielmehr darüber hinweg. Die Künstlerin begegnete ihr bei einem Anlass der Schweizer Botschaft in Warschau, und ihr Blick gilt offenbar den geladenen Gästen. Etwas abseits im Halbdunkel sitzt sie auf einem Sofa und beobachtet im Schutz ihres Handys heimlich und leicht verstohlen das Treiben der Leute. So gesehen ist der Blick hinter vorgehaltenem Handy nicht durchwegs ein abwesender und nicht immer eindeutig erkennbar.

Wie eine Spotbeleuchtung wirkt der Lichtschein auf den Bildern: Im Wechsel mit der dunkleren Umgebung werden die Gesichter, Körper und Hände auf besondere Weise modelliert und hervorgehoben. Und so wie das Handy als Werkzeug der Künstlerin und als Teil des Bildmotivs eine doppelte Bedeutung erhält, werden der Spot als Lichtquelle in den Bildern und die Beleuchtung der Bilder in der Ausstellung in gewisser Weise gedoppelt. Das in der Kunst beliebte Bild-im-Bild-Thema scheint auf, wobei für einmal nicht Bilder in Bildern gespiegelt werden, sondern die äusseren Rahmenbedingungen im Innern der Bilder. Damit lassen sich die Handy Girls auch in die aktuelle Diskussion um den Status von Bildern und ihrer künstlerischen Darstellung verorten. Wie überhaupt vielschichtige Bezüge zu kulturellen und gesellschaftlichen Themen ausgehend von der Bilder-Reihe hergestellt werden können: beispielsweise zur Allgegenwärtigkeit von Computern und ihren Einfluss auf unser Verhalten oder zu den Frauen und ihrer Repräsentation in der Kunst.

Schliesslich ist die Künstlerin seit jeher von den Erscheinungen und der Magie des Lichts fasziniert und verleiht diesen mittels ihrer Hinterglasmalerei erneut eine eigene, aufscheinende künstlerische Gestalt von eindringlicher Intensität.

Marc Munter 2021