Sibel Kocakaya / Bendicht Gertsch ‹LINEAR INTERVALS›
19.11. – 18.12.2021
In den Bildern von Sibel Kocakaya (*1986 in Istanbul, lebt in Bern, arbeitet in Zürich) und Objekten von Bendicht Gertsch (*1968 in Bern, lebt und arbeitet in Bern) sind lineare Strukturen und Zwischenformen von grundlegender Bedeutung. Aus den „linearen Intervallen“, den Linien und Zwischenräumen, welche die Künstlerin und der Künstler unterschiedlich aneinanderfügen oder aus dem Material herausarbeiten, ergibt sich die charakteristische Plastizität und Räumlichkeit ihrer Werke: aus Formen von Geäst oder felsigen, gebirgigen Strukturen oder aus der Architektur und dem Körperlichen, Wesenhaften. So sehr die Bilder und Objekte in der Ausstellung je für sich stehen und einzeln „entdeckt“ werden wollen, so sehr mögen sie gerade auch in den Zwischenräumen in einen spannenden Dialog miteinander treten.
Für ihre Malereien und Collagen geht Sibel Kocakaya stets von Fotografien aus, die sie bei Beobachtungen auf Spaziergängen in ihrer Umgebung macht. Die unterschiedlichen Motive und Vorlagen, in der Regel sind es mehrere für ein Werk, rühren einerseits von ihren Aufenthaltsorten her, die sie bereits von Istanbul über Paris, Lyon und Zürich bis nach Bern geführt haben. Anderseits von Reisen, etwa auf Ibiza, wo sie an einer abgelegenen Küste ein sonderbares Schwemmgut entdeckte (Untitled, 2021) oder in den Schweizer Bergen, wovon Bilder wie Untitled (Rocky mountain from Ticino, 2018) und Untitled (A view from Sustenpass, 2020) künden. So naturalistisch und greifbar echt die Felsstrukturen wirken, so sehr sind es eigenwillige, malerische Umsetzungen der Künstlerin. Bisweilen kombinierte sie auch hier mehrere Vorlagen wie bei Untitled (Nufenen and Grimsel Pass, 2020). Die auf Schwarz und Weiss sowie Grautöne reduzierte Malerei mag ein verbindendes Element der ausgestellten Arbeiten von Sibel Kocakaya sein. Mithin ähneln sie historischen Fotografien, die eine bestimmte Situation oder Begebenheit in der Vergangenheit wiedergeben. Gleichzeitig unternimmt die Künstlerin den Versuch, mit unbunten Farben eine vergleichbare Wirkung und Intensität zu erreichen, wie sie in der Malerei üblicherweise mit bunten Farben, mit dem Kolorit, erzielt werden.
Ein weiteres Interesse von Sibel Kocakaya gilt der Architektur, als Kulturgut und als Phänomen, das uns ständig umgibt. Insofern spielen auch die Umgebungsbedingungen eines Ortes und seine Bewohner*innen mit ihren Gewohnheiten und Besonderheiten eine wichtige Rolle. In ihren Malereien und Collagen – teilweise sind die Techniken miteinander kombiniert – schafft die Künstlerin neuartige, oft unwirkliche Bildwelten mit mehrdimensionalen Raumfluchten; beispielweise durch Verbindungen antiker und moderner Architektur (Untitled,2021; ‹Blue Column›, 2021; ‹Aventicum›, 2021). Aber auch ein schlichter Raum wie auf ‹Interspace› (2018) wirkt durch die Doppelung der Fensterfront und der Fuss- und Deckendielen unwirklich. Bei den Bildern mit Figuren – als Vorlage dienen stets Selbstporträts der Künstlerin – sind die spezifischen Beobachtungen und Begebenheiten sowie die ambivalente Räumlichkeit ebenfalls zentral (‹Threshold space›, 2021; ‹Sphere›, 2000; Untitled [Solstice], 2016; Untitled, 2018).
Das Spektrum der Werke von Bendicht Gertsch in der Ausstellung zeigt überblicksartig sein Schaffen der letzten rund zwanzig Jahre. Sowohl für die frühere, aus einem Eibenholzstamm gearbeitete Skulptur (‹Geflecht›, 2000) wie auch für die neueren, aus Pressholz und Sperrholz geschichteten und gefügten Plastiken, liess sich der Künstler von Erscheinungen der Natur, der Geometrie und der Architektur sowie von organischen Formen inspirieren. Bei seiner Arbeit geht er aber nicht von Abbildungen oder Skizzen aus, sondern von verinnerlichten Vorstellungen und Bildern. Durch Überlegungen und Studien zur Formgebung und bei der Umsetzung selbst nehmen die Objekte schliesslich ihre eigentliche Gestalt an. Mal basieren sie auf Grundformen wie Kreisen oder davon abgeleiteten, sich drehenden, windenden Konstruktionen (o.T., 2007; ‹White Lines›, 2020); mal auf Naturmotiven wie Bergen (‹Eiger›, 2007; ‹Mountain› und ‹Red Mountain›, je 2011), Geflechten (‹Geflecht›, 2000; ‹Turm XVI [Geäst]›, 2010) oder auf einem Samenkorn, einer sich öffnenden Blüte (‹Oeffnung›, 2021). Wichtig für die Werke ist ebenso die architektonisch gebaute oder natürlich gewachsene Turmform, beispielhaft etwa beim ‹Würfelturm› (2019). Schliesslich geht es dem Künstler immer auch darum, die Wesenhaftigkeit, den eigenen Charakter, einer zugrundeliegenden Form zum Ausdruck zu bringen.
Ein Grossteil der Arbeiten von Bendicht Gertsch sind Schichtplastiken, wofür er – Schicht für Schicht – präzis gesägte Pressholzplatten zu komplexen Objekten fügt. Treppenförmig abgestuft folgen die Platten aufeinander, bisweilen winden sie sich in mehrfacher Drehung in die Höhe, wobei neben kompakten Körpern auch Konstruktionen mit einer Innen- und Aussenform auftreten. Hier ist das Innere bisweilen schwarz eingefärbt, wodurch die räumlich-plastische Wirkung eine weitere Dimension erhält. Schliesslich nehmen die Werke je nach Standpunkt der Betrachtung unterschiedliche Gestalt an, ihr Innen und Aussen, ihre Plastizität und Räumlichkeit verändern sich stetig, und entfalten so ihre eigentliche Vielschichtigkeit.
Marc Munter, 2021