Reto Camenisch: Weit- und Nahsicht

Reto Camenisch ist ein “Erwanderer“. Sämtliche Fotografien sind Resultate einer nur leicht gelenkten Suche auf den verschlungenen Pfaden des Lebens. Waren es in den 1990er Jahren Menschen1, die seinen Weg kreuzten, oder magische, musikalisch-narrative Landschaften mit ihren Bewohnern2, die ihn interessierten, begann mit seinem Zyklus “Zeit“3 ein neuer Schaffensabschnitt, der ihn über zehn Jahre begleiten sollte. Seine ab Grossbildpolaroid auf Barytpapier abgezogenen Fotografien sprechen eine eigenständige Sprache; die Chemikalienreste bilden einen speziellen Rahmen und lassen die Arbeiten zu Fenstern in die Welt werden. Reto Camenisch versteht es eindrücklich, das Wesen einer Landschaft aufzuspüren und in unverkennbaren Bildern festzuhalten. Ob in seiner unmittelbaren Heimat, dem Berner Oberland, oder aber auf allen Kontinenten, stets steht die Landschaft im Zentrum – vertraut, aber gleichzeitig entrückt und zeitlos. Meist sind keine zivilisatorischen Eingriffe zu sehen, also keine von Menschenhand aufgetürmten Steinhaufen, keine Architektur, keine Strassen und Wege – nur Natur und Zeit. Sie erzählen Geschichten, die Betrachterinnen und Betrachter spinnen sie mit ihren eignen Gedanken weiter. In ihrer Monumentalität wirken kleinste Details umso stärker, etwa einzelne Steine oder Bäume, und erzählen vom steten Lauf der Zeit. Es sind Begegnungen von unmittelbarer Direktheit, Sichten in ein vertrautes, und doch erst durch den Künstlerblick zu erfahrendes Universum, ständig oszillierend vom Makro- in einen Mikrokosmos. Genau dieses Pendeln, dieser Blick in die Ferne, Weite, ohne auf Details in die Nähe zu verzichten, wurde immer wichtiger, so dass der Künstler beschloss, die Polaroidtechnik zu Gunsten des klassischen 4/5 Inch Grossbildfilms aufzugeben. Vielleicht nur auf Zeit; aber zumindest für die nächste Zeit. Gleichzeitig keimte der Wunsch, mehr als ein halbes Jahr zu Fuss in einem Kulturkreis unterwegs zu sein. Und so bereiste er von März bis Oktober 2009 Nordindien, Nepal und Tibet – Orte, an denen Vertikale und Horizontale in einem ständigen Wechselspiel begriffen sind. Die entstandenen Fotografien stellte er unter den Titel “Berge. Pilger. Orte“ – sie bilden eine Synthese aus früheren Zyklen und den Arbeiten der letzten Jahre. Eindrücklich begleitete er Menschen auf der Pilgerschaft – und sie begleiteten ihn. Die Landschaft wurde für ihn zu einer spiegelhaften Dialogpartnerin, in welcher er das “Mensch-Sein“ dauernd physisch und kontemplativ neu erfahren und auch dokumentieren konnte. Die heran gezoomten Gesteinsformationen gleichen Fraktalen, verspielt und monumental; die Licht-, Schatten- und Wolkenspiele lassen die Landschaften zu wunderbaren Kulissen eines grossen Traumwelttheaters werden. Bernhard Bischoff, August 2010

Bernhard Bischoff, August 2010