Reto Camenisch – Gian Paolo Minelli
25.5.-28.6.03
«Carcel de Caseros» heisst das ehemalige Staatsgefängnis von Buenos Aires, das der in Argentinien lebende Fotograf Gian Paolo Minelli für seine neuste Serie während zwei Jahren regelmässig besucht hat. Es entstanden eindrückliche Bilder, die von Lebenslust und Wille nach Freiheit einerseits und einer unvergleichlichen Melancholie andererseits geprägt sind. Einst wurde das riesige Gebäude von Hundertschaften bevölkert, heute steht es leer. Es blieben nur vereinzelte Relikte der Hundertschaften, die einmal die Mauern bevölkerten. Doch sind es genau diese Relikte, Wandzeichnungen oder Eingriffe in die Raumstruktur, die Minelli aufspürte und abbildete. Seile, an denen Tücher aufgehängt wurden, um trotzdem eine gewisse Intimität in den Grossraumzellen zu haben oder Glasziegel, die einst das Licht der Freiheit in den Raum fluten liessen. Noch heute muten der morbide Charme des Gebäudes, die unzähligen Geschichten sowie deren Schicksale anziehend und abstossend zugleich an. Minelli hat sich dem leeren Gebäude mit Achtung und Zurückhaltung genähert und damit auch den ehemaligen politischen Gefangenen etwas von ihrer einst verlorenen Würde zurückgegeben. Einmal mehr ein gekonntes Ausloten der Schnittmenge von Historie, aktueller Realität und alles überspannender Ästhetik.
Den Arbeiten des in sich geschlossenen Systems des Gefängnisses stehen Landschaftsfotografien von Reto Camenisch gegenüber. Der Schweizer Fotograf versteht es eindrücklich, das Wesen einer Landschaft aufzuspüren und in stimmigen Bildern festzuhalten. Ob in den lieblichen Schweizer Bergen, im zerfurchten Irland oder an verträumten Stränden, stets steht die Landschaft im Zentrum – entrückt und zeitlos. Für die aktuelle Ausstellung wurden ausschliesslich Arbeiten ausgewählt, die ohne jegliche zivilisatorischen Eingriffe sind. Keine von Menschenhand aufgetürmten Steinhaufen, keine Architektur, keine Strassen und Wege – nur Natur und Zeit. So wirken denn die Bilder auch auf einer anderen Ebene. Zwar muten sie auf der einen Seite vertraut an, auf der anderen Seite haftet ihnen jedoch stets die Idee von vermeintlichen, nahezu unerreichbaren Ideallandschaften an. In ihrer Monumentalität wirken sogar kleinste Details, einzelne Steine oder Bäume und erzählen vom Lauf der Zeit. Die Bilder werden zu Arenen von Offenheit und Raum, zum Sinnbild für ungezähmte Freiheit.
So lebt die Ausstellung von zwei parallelen Realitäten, der Realität im hermetisch abgeschlossenen Raum und der Realität draussen, ausserhalb der Mauern. Minellis Farbfotografien beginnen mit den schwarz-weissen Bildern von Camenisch zu kommunizieren, ähnlich wie Wirklichkeit und Traum.
Bernhard Bischoff, Mai 2003