Samuel Blaser: ‹In Wahrheit warten wir alle›

Still blicken uns die nackten Menschen an, die Figuren sind stumm und wenn sie sich berühren, dann behutsam. Im Zentrum von Samuel Blasers Gemälden stehen das Innehalten und das Abseitsstehen, der Künstler zeigt uns die vielfältigen Situationen des Zusammenseins und der Kommunikation. Diese Interaktionsfragmente gehen über die dargestellten Figuren hinaus, transzendieren auf die BildbetrachterInnen, welche von den Blicken der Menschen wie gefangen sind. Es scheint so, als hätten die Dargestellten stets auf die BetrachterInnen gewartet. Voyeurismus wird jedoch vermieden, vielmehr partizipiert der Betrachtende, wird ins Bild eingeladen; es gibt aber keine Garantie, was sich dann ereignen könnte. Der Schritt ins Bild geht über gewohnte Beziehungsformen und Sitten hinaus; die Malerei entzieht sich bewusst einer Kategorisierung.

Alte Meister und der “magische Realismus“ in der Neuen Sachlichkeit erwähnt Blaser als Referenzen. Er appropiiert deren Bildsprache, lädt die Bilder aber mit einer zeitgenössischen Grundstimmung auf. Naturalistisch sind die Bilder nur insofern, als eine körperliche Identifikation möglich wird. Deswegen gibt es kaum Kleider in den Bildern. Insbesondere der Haut, der Abgrenzung des Individuums gegen aussen, gilt sein Interesse – sowohl im materiellen wie auch im metaphorischen Sinne. Die Darstellung und Erforschung der Nacktheit ist gleichbedeutend mit der Suche nach dem menschlichen Kern, der das Individuum von der Gesamtheit unterscheidet. Und nicht zuletzt steht die Haut auch für den direktesten sozialen Kontakt, die Interaktion – auch von Bild und Betrachtenden.

Im Gegensatz zum Körper, welcher die Geschlechter meistens offen zeigt, bleiben die Köpfe oft androgyn. Der Künstler eliminiert plakative Eigenheiten und schafft es so, zu einer “Idee“ des Menschen zu kommen, die über das “Individuell-Biographische“ hinausgeht. Mit diesen Mitteln zeichnet der Künstler die verschiedenen Facetten der Seinsfrage nach und führt uns zur Reflexion über unser Zusammenlebens und über die Vergänglichkeit. Samuel Blaser formt seine Figuren so lange, bis er selbst etwas von ihnen lernen kann. Die Menschen schweben vermeintlich in einer “Mitte“, die dem Blick ausgeliefert ist, die also quasi kein Zuhause bietet. Wohl deshalb erscheint mancher Blick auch etwas unheimlich.

Das Format der neusten Arbeiten ist grösser geworden: die Hinwendung zum Ganzkörperporträt stellt eine formale, wie auch inhaltlich-motivische Befreiung dar. Der Künstler entschleunigt mit den Bildinhalten, seiner Malweise sowie dem Medium der Malerei an sich den Blick und erinnert daran, dass es trotz allen technischen Fortschritts ein Gegengewicht zur heutigen Hektik geben kann. In den neuen Bildern des Künstlers gibt es zwar Ansätze zu Taten und Geschichten, es dominiert aber klar das Pausenhafte, Müssiggängerische, Wartende, Schwankende und Spiegelnde – oft gepaart mit einem feinen, versöhnlichen Humor. Es stellt sich die naheliegende Frage, ob es denn überhaupt eine Tätigkeit gibt, welche das Warten aufheben könnte. Sind wir nicht alle Wartende auf dieser Welt?

1) In verità, siamo tutti in attesa, aus Cesare Pavese, Racconti, Volume primo, Einaudi, 1960, S. 335.